Etwa 12 bis 14 Millionen Deutschen, die 1945 ihre Heimat verloren, stand eine wesentlich geringere Zahl an Neusiedlern in den betroffenen Gebieten gegenüber. So gab es durch die Westverschiebung Polens „nur“ etwa 1,53 Millionen zwangsumgesiedelte Polen. Sie stammten aus der Sowjetunion und aus den von ihr annektierten Gebieten (Litauen, Ostpolen, Weißrussland und Ukraine).

In den 1945/1946 von Deutschen verlassenen Teilen des untergegangenen Deutschen Reiches (Pommern, Ostpreußen, Schlesien und östliches Brandenburg) hatten vor 1945 fast 9,3 Millionen Menschen gelebt. 1947 wurden Ukrainer von der neuen polnischen Ostgrenze in die neuen polnischen West- und Nordgebiete zwangsumgesiedelt („Aktion Weichsel“). Diese „ethnische Flurbereinigung“ sollte primär der „Entflechtung“ des polnisch-ukrainischen Gegensatzes auf polnischem Boden an der Grenze zur Sowjetunion dienen. Der größte Teil der Neusiedler in den ehemals deutschen Gebieten waren jedoch Polen aus Zentralpolen. Obwohl viele Ortschaft en hohe Bevölkerungsverluste erlitten, verschwanden im Vergleich zur Tschechoslowakei und zur neuen sowjetischen Oblast Kaliningrad (nördliches Ostpreußen) nur relativ wenige Dörfer im neuen Polen komplett von der Landkarte.

Aus dem Sudetenland wurden rund 3 Millionen Deutsche vertrieben. Obgleich sich die Regierung der Tschechoslowakei bemühte, tschechische Neusiedler in die entvölkerten Regionen zu holen, konnten zahlreiche Ortschaften nicht mehr besiedelt werden. Ganze Landstriche an den Grenzen verödeten. Für die Tschechen im Landesinneren gab es relativ wenig Anreiz, den Wohnort zu wechseln, da das Land kaum durch den Zweiten Weltkrieg zerstört worden war und somit keine Notwendigkeit für einen Umzug mit Neubeginn bestand. Prag versuchte Exiltschechen aus Ungarn, vom Balkan, aus Industriegebieten Frankreichs, Belgiens und Deutschlands (etwa aus dem Ruhrgebiet) und sogar tschechische Auswanderer aus den USA als „Repatrianten“ in die Tschechoslowakei zurückzuführen. Auch griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, vor allem aber zahlreiche Roma wurden im Sudetenland angesiedelt, um den Bevölkerungsverlust aufzufangen. Insgesamt konnten nur etwa 1,7 Millionen Menschen in den Sudetengebieten angesiedelt werden, von denen viele später wieder fortzogen.

Deutsche Flüchtlinge auf dem Weg nach Westen, 1945.
Deutsche Flüchtlinge auf dem Weg nach Westen, 1945.

Der Landkreis Heiligenbeil

Ostpreußen

Gut Klein-Rödersdorf: Abfahrt zur Königsberger Ostmesse, 1926.
Gut Klein-Rödersdorf: Abfahrt zur Königsberger Ostmesse, 1926.

Der Kreis Heiligenbeil lag im Westen Ostpreußens. Er umfasste einen Teil des Frischen Haff es und der Frischen Nehrung und grenzte im Westen an die Ostsee. 1939 lebten im Kreisgebiet 53.207 Einwohner. Heute befindet sich der nördliche Teil des ehemaligen Landkreises in Russland (Oblast Kaliningrad) und der südliche Teil in Polen. Sowohl die ehemalige Kreisstadt Heiligenbeil als auch die ehemalige zweite Stadt Zinten liegen in Russland.

Der ehemalige Landkreis zählt zu den vormals deutschen Regionen, in denen nach 1945 die meisten Ortschaften untergegangen sind. Der Kreis hatte 1939 zwei Städte, 111 Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern und einen Gutsbezirk. Nach Zählungen des Heimatkreises Heiligenbeil können davon heute knapp 100 als nicht mehr existent gelten – einschließlich der Stadt Zinten.

Viele Ortschaften wurden nach 1945 dem Erdboden gleichgemacht. Im Grenzsaum sind 100 Prozent der Orte verschwunden, doch auch im restlichen russischen Teil sind es über 80 Prozent. So sind die historischen Fischerdörfer am Haff  fast vollständig untergegangen. Alle zehn Kirchen im russischen Teil des Landkreises sind vernichtet. Im polnischen Teil der Region fällt die Bilanz positiver aus.

Die Stadt Heiligenbeil

Ostpreußen

Die Altstadt von Heiligenbeil, vor 1945.
Das Luft bild zeigt die Heiligenbeiler Altstadt vor der Zerstörung 1945. Deutlich ist der Marktplatz mit dem Rathaus in der Mitte zu erkennen.
Foto: Bildarchiv Heiligenbeil, Rheine

Die Altstadt von Heiligenbeil nach der Zerstörung, 1945.

Die Altstadt von Heiligenbeil nach der Zerstörung, 1945.
Die Altstadt von Heiligenbeil wurde 1945 durch sowjetische Luft angriffe komplett zerstört, die Ruinen anschließend beseitigt. Heute befindet sich auf dem Gelände eine Brache. Auf dem Foto erkennt man in der Mitte den zerstörten Marktplatz mit der Ruine des Rathauses, rechts dahinter die Ruine der evangelischen Pfarrkirche. Das Bild wurde im April 1945 aus einem sowjetischen Flugzeug heraus aufgenommen.
Foto: Bildarchiv Heiligenbeil, Rheine

Abschlussball in Zinten, 1936.
Abschlussball in Zinten, 1936.

1939 hatte die Kreisstadt Heiligenbeil 12.100 Einwohner, im Oktober 1944 waren es 16.000, da Ausgebombte aus Königsberg und aus Städten im Westen Deutschlands in Heiligenbeil Unterkunft  gefunden hatten. Ab dem 18. März 1945 wurde Heiligenbeil durch Brand- und Phosphorbomben zerstört und am 23. März 1945 von der Roten Armee eingenommen. 1947 wurde Heiligen-beil nach dem 1944 gefallenen sowjetischen Oberstleutnant Nikolai Mamonow in Mamonowo umbenannt. Es hatte von 1947 bis 1951 keine Stadtrechte mehr.

Die zerstörte Innenstadt wurde vollkommen planiert. Sie ist bis heute Brachland. Alle öffentlichen Bauwerke sind abgetragen, Fundamente von einigen Häusern und Straßenzüge noch erkennbar. Nordwestlich der alten Stadt entstand eine neue Stadt, die heute von etwa 8.000 Russen bewohnt wird. Sie ist der einzige Ort von einiger Bedeutung, während die meisten übrigen Dörfer des ehemaligen Landkreises auf russischer Seite gänzlich aufgelöst worden sind.

Der Landkreis Goldap

Ostpreußen

Der ehemalige Landkreis Goldap lag im Osten der Provinz Ostpreußen. Genau wie der Landkreis Heiligenbeil im Westen der Provinz wurde er 1945 zwischen der Sowjetunion und Polen geteilt. Die Grenze verläuft  wie mit dem Lineal gezogen.

Der Kreis umfasste am 1. Januar 1945 die Kreisstadt Goldap als einzigen Ort mit mehr als 2.000 Einwohnern sowie 171 weitere Gemeinden. 1939 betrug die Einwohnerzahl des Kreises 45.887 Menschen. Am 21. Oktober 1944 wurden die Einwohner von Stadt und Kreis Hals über Kopf evakuiert. Am nächsten Tag nahm die Rote Armee Goldap ein. Nach schweren Kämpfen gelang es der Wehrmacht noch einmal, die Stadt zurückzugewinnen. Am 18. Januar 1945 eroberten die sowjetischen Truppen die nun zu 90 Prozent zerstörte Stadt endgültig.

Nach 1945 lag Goldap auf polnischer Seite, nur drei Kilometer von der undurchlässigen Grenze entfernt. Die Grenzlage behinderte die Entwicklung der Stadt. Allerdings wurde die evangelische Alte Kirche bis 1984 wiederaufgebaut und dient heute als katholische Kirche. Zu den zahlreichen Gebäuden, die nicht wieder aufgebaut wurden, zählte die Neue Kirche (1856) auf dem Marktplatz. Die Ruine samt erhalten gebliebenem Kirchturm wurde 1956 abgetragen.

Auf polnischer Seite des ehemaligen Landkreises wurden 50 Prozent der verlassenen Ortschaft en nicht mehr neu besiedelt, auf russischer Seite waren es 80 Prozent, im russischen Grenzgebiet 100 Prozent.

Die Eisenbahnlinie am Goldaper See  bei Klein Kummetschen.
Die Eisenbahnlinie am Goldaper See bei Klein Kummetschen. Das kleine Dorf Klein Kummetschen, während der NS-Zeit in Schäferberg umbenannt, lag zwei Kilometer nördlich von Groß Kummetschen und circa fünf Kilometer nördlich von Goldap auf nunmehr russischem Territorium. Heute befi ndet sich hier der wichtige Grenzübergang Goldap-Gumbinnen/Gussew. Die Eisenbahnlinie, Teil des dichten ostpreußischen Streckennetzes, verband Goldap mit Stallupönen (1938–1946 Ebenrode, seither Nesterow), das 50 Kilometer nordöstlich von Goldap liegt. Die Strecke wurde im südlichen Teil nach 1945 abgebaut und ist im nördlichen Teil stillgelegt. Foto: Patenschaftsmuseum Goldap, Stade

Postkarte von Kallweitschen-Wystieten.
Das untergegangene Dorf Kallweitschen im Landkreis Goldap hieß von 1938 bis 1945 Kornberg. Man darf es nicht mit einem Dorf gleichen Namens im ostpreußischen Landkreis Stallupönen verwechseln, das 1938 in Haldenau umbenannt wurde. Kallweitschen lag im nördlichen Teil des Landkreises Goldap, der seit 1945 zu Russland gehört.
Foto: Patenschaftsmuseum Goldap, Stade

Fährmann Joseph bei seinen Booten im Goldaper See,
Schillinnen, 1938–1945 Heidensee.

Auf der gegenüberliegenden Seeseite sind Gehöfte des Ortes Groß Kummetschen, nach 1938 Hermeshof, zu sehen. Die „Fährlinie“ per Ruderboot ging von Schillinnen nach Groß Kummetschen.
Foto: Patenschaftsmuseum Goldap, Stade

Der Landkreis Tachau

Sudetenland

Der Landkreis Tachau in Westböhmen an der Grenze zu Bayern steht exemplarisch für das Verschwinden zahlreicher ehemals deutscher Ortschaften im Sudetenland. Nach neuesten deutschen und tschechischen Forschungen liegt deren Zahl bei etwa 2.400.

Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es 119 Städte und Dörfer im Kreis Tachau. Nach der Vertreibung der Deutschen verschwanden nach den Forschungen von Wolf-Dieter Hamperl 32 Ortschaften komplett. Das ist mehr als ein Viertel aller Orte (Die verschwundenen Dörfer, Kienberg, 2008).

Ein Bündel von Ursachen ist dafür verantwortlich. Die wichtigste ist der Bevölkerungsverlust: Am 17. Mai 1939 lebten im Landkreis 56.490 Einwohner, nach der Vertreibung der Deutschen 1945/46 und der Ansiedlung von Tschechen, Slowaken und Roma waren es am 22. Mai 1947 nur noch 24.433 Einwohner, also weit weniger als die Hälfte. Schon daraus wird verständlich, dass nicht alle Dörfer überleben konnten.

Der zweitwichtigste Grund ist die Grenzziehung: Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass mehr als die Hälfte der planierten Dörfer im Grenzsaum des „Eisernen Vorhangs“ lagen. Sie gehörten zu den Orten, die auf Beschluss der tschechoslowakischen Regierung verschwinden sollten, um einen nicht

von Zivilisten bewohnten Grenzstreifen zu schaffen, der militärisch optimal kontrolliert werden konnte.

Fast alle verschwundenen Orte, sowohl die an der Grenze zum Westen als auch die im Landesinneren, lagen auf einer Höhe von über 600 Metern. In diesen Lagen war Landwirtschaft  aus klimatischen und geologischen Bedingungen nur eingeschränkt möglich. Die Neusiedler verfügten nicht das über Jahrhunderte alte Wissen, um sich der unwirtlichen Natur gegenüber zu behaupten.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft nach 1948 führte zu einer Zentralisierung: abgelegene Orte wurden aufgegeben, Schulen und Läden in kleinen Dörfern geschlossen. Die jungen Leute zogen in die Städte, wo es Arbeit gab und die Kinder zur Schule gehen konnten. Die Einwohnerzahl der Kreisstadt Tachau hat sich von 6.825 vor dem Krieg auf 12.609 im Jahre 2016 beinahe verdoppelt.

Die Kriegszerstörungen durch Luftangriffe und Artillerie der US-Armee bei Kriegsende waren wie fast überall im Sudetenland nachrangig. Böhmen war kein Hauptkriegsschauplatz, sehr viele Orte blieben von Kampfhandlungen komplett verschont.

Ansicht von Neuhäusl,  Bezirk Tachau,  mit abgeerntetem Kornfeld, um 1937.
Ansicht von Neuhäusl, Bezirk Tachau, mit abgeerntetem Kornfeld, um 1937. Der Ort hatte 1930 423 ausschließlich deutsche Bewohner. Die Pfarrkirche wurde 1836 geweiht. und diente nach 1945 als Viehstall. Von den 84 Anwesen des Ortes blieben 13 erhalten. Sie dienen heute meist als Wochenendhäuser. Der Friedhof mit 70 aufrecht stehenden Grab-mälern wurde 1993 von ehemaligen Neuhäuslern wieder hergerichtet. Foto: W.-D. Hamperl, Altenmarkt a. d. Alz