Grenzziehungen

Ursachen des Verschwindens

1945 wurde die Tschechoslowakei bis auf die Karpato-Ukraine in den Grenzen vor dem Münchner Abkommen 1938 wiederhergestellt. Im einsetzenden Kalten Krieg war die tschechische Westgrenze Teil des „Eisernen Vorhangs“. In einem breiten Grenzsaum hatten militärische Entscheidungen Vorrang. Nach der Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung wurden fast sämtliche grenznahen Dörfer nicht wieder besiedelt. Damit sollte eine optimale militärische Kontrolle und Grenzsicherung gewährleistet werden. Man fürchtete, dass leerstehende Häuser illegalen Grenzgängern Unterschlupf bieten könnten. Daher wurden sie planiert oder dienten als Ziele für militärische Übungen. Gelegentlich wurden grenznahe Kirchtürme zu Beobachtungstürmen umgebaut.

Nicht nur die Grenzen zum NATO-Mitglied Bundesrepublik und zum neutralen Österreich unterlagen dieser Grenzregie. Interessanterweise wurden auch zahlreiche Ortschaft en an der Grenze zur DDR dem Erdboden gleichgemacht, in geringerem Maße auch solche an der Grenze zu Polen.

1945 wurde Ostpreußen durch eine von Stalin diktierte Grenze in einen sowjetischen (Oblast Kaliningrad) und einen polnischen Teil geteilt. Im sowjetischen Grenzbereich wurden die Dörfer der vertriebenen Deutschen zu 100 Prozent nicht wieder besiedelt. Die gesamte Oblast Kaliningrad blieb militärisches Sperrgebiet bis 1989 und durfte von Ausländern nicht besucht werden.

Die tschechoslowakische Grenze zur Bundesrepublik Deutschland, 1968.
Die tschechoslowakische Grenze zur Bundesrepublik Deutschland, 1968.

Randgebiete

Sudetenland

Reischdorf/Rusová auf der böhmischen Seite des mittleren Erzgebirges, etwa 1960 bis 1970 und 2002.
Reischdorf/Rusová auf der böhmischen Seite des mittleren Erzgebirges, etwa 1960 bis 1970 und 2002.

Reischdorf/Rusová auf der böhmischen Seite des mittleren Erzgebirges, etwa 1960 bis 1970 und 2002.

Das Dorf wurde 1367 das erste Mal urkundlich erwähnt. Schon vor der Vertreibung befand sich der Ort im Niedergang: Im Jahre 1900 hatte er 3.571 Einwohner, 1930 waren es nur noch 2045. 1950 lebten hier noch 328 meist tschechische Bewohner. Im Zusammenhang mit dem Bau der Talsperre Preßnitz wurde das Dorf 1970–1974 geräumt und planiert.

Fotos: Antikomplex, Prag

Das Dorf Orphus im Erzgebirge, nahe der Grenze zu Sachsen, um 1930, und das Gelände 2002.
Das Dorf Orphus im Erzgebirge, nahe der Grenze zu Sachsen, um 1930, und das Gelände 2002.

Das Dorf Orphus im Erzgebirge, nahe der Grenze zu Sachsen, um 1930, und das Gelände 2002.

Die kleine Streusiedlung Orphus/Mezilesí war ein klassischer Erzgebirgsort auf etwa 700 Meter Höhe. Der Ort war von den aus den Mooren und Sümpfen aufsteigenden Nebeln, häufi gen Niederschlägen und starkem Wind geprägt. Die Böden waren karg. Die Ortschaft  lag an der Straße von Reischdorf nach Schmiedeberg. Diese Straße ist heute nicht mehr befahrbar, was die Verlassen-heit des Ortes noch unterstreicht.

Beide Fotos: Antikomplex, Prag

Luft bild von Wosant/Basantov, 1956, und Luft bild des untergegangenen Dorfes im Jahre 2000.
Luft bild von Wosant/Basantov, 1956, und Luft bild des untergegangenen Dorfes im Jahre 2000.

Luft bild von Wosant/Basantov, 1956, und Luft bild des untergegangenen Dorfes im Jahre 2000.

Auf der Luft aufnahme von 1956 sind noch alle Hofstellen des über 600 Jahre alten Dorfes zu erkennen. Der Ort lag auf 638 Meter Höhe. Nach der Vertreibung der Deutschen 1946 wurden einige slowakische Familien und bulgarische Landarbeiter angesiedelt. 1964 waren von den 59 Anwesen nur noch vier bewohnt. Das letzte Haus wurde 1968 planiert. Anstelle des Dorfes haben sich Bäume, Büsche und Unterholz ausgebreitet. Auch die Gliederung der Feldfl ur in Ackerparzellen und die Feldwege der Fluren sind verschwunden. Heute erinnert nur ein Gedenkkreuz von 1992 daran, dass hier einmal ein Dorf stand.

Beide Fotos: Antikomplex, Prag

Das Städtchen Zettwing von Norden, 1941 und das Gelände im Jahre 2003.
Das Städtchen Zettwing von Norden, 1941 und das Gelände im Jahre 2003.

Das Städtchen Zettwing von Norden, 1941 und das Gelände im Jahre 2003.

Im Süden Böhmens bildet das Gratzener Gebirge die Grenze zu Ober- und Niederösterreich. Hier lag das im 13. Jahrhundert von österreichischen Kolonisten gegründete Dorf Zettwing/Cetviny, das 1418 Stadtrechte erhielt. Zettwing kam 1918 zur Tschechoslowakei. 1938 wurde die Stadt durch das Münchener Abkommen an das Deutsche Reich angeschlossen und kam zum Reichsgau Oberdonau. Nach der Vertreibung der Deutschen 1946 und dem erfolglosen Versuch, Wolgatschechen sowie Tschechen aus der Slowakei, Rumänien und Bulgarien anzusiedeln, wurde das Städtchen 1955–1956 auf Anordnung des Prager Innenministeriums mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Lediglich die katholische Pfarrkirche und vier Häuser von Zettwing blieben von der Zerstörung verschont. Der Kirchturm diente der Bewachung des Eisernen Vorhanges, in der Kirche wurde Vandalismus betrieben. 1995 begann das Bistum Budweis mit der Rekonstruktion des Gotteshauses, 2003 wurde es neu geweiht.

Beide Fotos: Antikomplex, Prag

Militärische Sperrgebiete: Beispiel Duppau

Sudetenland

Laut Angaben des Geografen Wilfried Heller fielen auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens nach 1945 326 Orte der Einrichtung von Truppenübungsplätzen zum Opfer. Fast immer waren dies Dörfer, aus denen die deutschen Bewohner 1945/46 vertrieben worden waren und die danach leer standen. Die verlassenen Gebäude dienten als Ziele für Artilleriebeschuss oder als Übungsgelände für den Häuserkampf. Gelegentlich wurden hier sogar Szenen von Kriegsfilmen gedreht. Aus Sicht der Warschauer-Pakt-Staaten war es strategisch sinnvoll, Truppenübungsplätze nahe des „Eisernen Vorhanges“ zu konzentrieren, um gegenüber der NATO militärische Präsenz zu zeigen.

Der größte Truppenübungsplatz der damaligen Tschechoslowakei entstand 1949 auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 169 in Nordwestböhmen in der Nähe von Karlsbad. Dafür wurden die Stadt Duppau und 76 Ortschaften „abgesiedelt“. Seit dem NATO-Beitritt Tschechiens 1999 gibt es hier Manöver der NATO. 2015 wurde das Militärgelände verkleinert und umfasst 332 Quadratkilometer (zum Vergleich: Berlin hat eine Fläche von 892 Quadratkilometer).

Duppau/Doupov im Egerland entstand im 12. Jahrhundert, 1566 wurden die Stadtrechte bestätigt. Obwohl von geringer Größe (1930 hatte Duppau nur 1524 Einwohner, davon 1482 Deutsche und 42 Tschechen), war es überregional wegen seines katholischen Gymnasiums bedeutend. Es wurde vom Piaristenorden geführt. Daneben gab es drei kunsthistorisch wertvolle Kirchen (Pfarr-, Kloster- und Friedhofskirche), einen malerischen Marktplatz mit Brunnen und Rathaus von 1579, Museum, Archiv und das vierflügelige Schloss der Grafen von Zedtwitz mit Schlosspark.

Heute stehen in der Gemarkung nur noch die Grabkapelle der Zedtwitzer und eine Scheune. Einmal pro Jahr darf die kleine Schar der noch lebenden ehemaligen Bewohner von Duppau und der Nachbargemeinden (die meisten leben heute in Bayern) mit Sondergenehmigung das Gelände betreten.

ASU-85, sowjetische Luft lande-Selbstfahrlafette, 1971.
ASU-85, sowjetische Luft lande-Selbstfahrlafette, 1971. Die Serienproduktion der Lafette zur Panzerabwehr lief von 1956 bis 1964. Das Fahrzeug konnte in sowjetischen Militärflugzeugen zum Einsatzort geflogen werden. Dargestellt ist eine ASU-85 mit polnischer Besatzung während eines Manövers der Warschauer-Pakt-Staaten. Erst 1993 wurden die letzten Fahrzeuge dieser Serie aus der russischen Armee ausgemustert. Foto: Wikipedia

Grenzorte: Beispiel Markhausen

Sudetenland

Die Grenzbefestigungen der Tschechoslowakei am Grenzübergang Klingenthal-Markhausen,  von der deutschen Seite gesehen, um 1938.

Die Grenzbefestigungen der Tschechoslowakei am Grenzübergang Klingenthal-Markhausen, von der deutschen Seite gesehen, um 1938.

Der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nur mit einem Schlagbaum gesicherte Grenzübergang wurde Ende der 1930er Jahre stark befestigt. Die Befestigung spiegelte die vom NS-Regime geschürten Spannungen zwischen der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich bzw. die zwischen Tschechen und Sudetendeutschen wider. Nachdem Markhausen mit dem gesamten Sudetenland durch das Münchener Abkommen an das Deutsche Reich gefallen war, wurde der Grenzübergang 1938 bis 1945 abgebaut. Es gab vor 1945 eine Schule, ein Gemeindeamt, eine Post, Polizei, Freiwillige Feuerwehr, ein Kino, ein Freibad, eine Fabrik, Geschäfte und acht Gaststätten. Diese hohe Zahl erklärt sich durch die Grenzlage: Aus Sachsen kamen Besucher wegen der günstigen Preise und guten Küche zum Essen nach Markhausen. Das Gesellschaft sleben spielte sich vornehmlich in Vereinen und Musikkapellen ab.

Alle Fotos: Sammlung Klaus Hoyer, Klingenthal

Das Restaurant „Zur schwarzen Katz“.
Das Restaurant „Zur schwarzen Katz“.
Postkartengruß aus Markhausen.
Postkartengruß aus Markhausen.
Das Restaurant „Reichsgrenze“.
Das Restaurant „Reichsgrenze“.
Das „Café Seifert“.
Das „Café Seifert“.
Die „Bäckerei Fischer“.
Die „Bäckerei Fischer“.
Das Restaurant „Zum Braun‘ Hund“.
Das Restaurant „Zum Braun‘ Hund“.

Nachdem die deutschen Bewohner von Markhausen 1945/46 vertrieben worden waren, wurde das Dorf zunächst von Tschechen besiedelt. Doch 1955/56 wurde es zerstört und dem Erdboden gleichgemacht.

Markhausen wurde wie viele Dörfer in Westböhmen im 13. Jahrhundert vom Kloster Waldsassen (Bayern) aus besiedelt. Nach 1348 wird der Ort nicht mehr erwähnt. Vermutlich wurde er nach der Pest um 1350 aufgegeben. Erst in der frühen Neuzeit erfolgte eine Wiederbesiedlung. 1910 gab es 1.453 Einwohner und 106 Gebäude. 1930 betrug die Einwohnerzahl 1.253 in 143 Häusern. Davon waren 1.162 Deutsche, 37 Tschechen und 54 Ausländer (aus dem benachbarten Deutschen Reich).

Viele Markhausener arbeiteten im Musikinstrumentenbau in Graslitz oder Klingenthal. Doch auch Land- und Forstwirtschaft  spielten bis zur Vertreibung eine Rolle.

1946 wurden die letzten deutschen Bewohner vertrieben. 1948 hatte der Ort 220 Bewohner, die zumeist aus dem Inneren der Tschechoslowakei stammten. 1955 begann der Abriss des Dorfes, um, wie überall entlang der Grenzen der Tschechoslowakei einen unbewohnten Grenzstreifen zu schaffen.

Aufnahmen der Abbrucharbeiten, 1956.
Aufnahmen der Abbrucharbeiten, 1956.
Aufnahmen der Abbrucharbeiten, 1956.

Aufnahmen der Abbrucharbeiten, 1956.

Wie überall entlang der tschechoslowakischen Grenze sollte eine unbewohnte Zone geschaffen werden. Dies galt nicht nur für die Grenze zur Bundesrepublik und zu Österreich, sondern auch zum „Bruderland“ DDR. Diese Aufnahmen wurden illegal von einer ehemaligen Bewohnerin von jenseits der Grenze in Klingenthal in der DDR aufgenommen. Dort hatten einige Markhausener nach 1946 ein neues Zuhause gefunden.

Fotos: Sammlung Klaus Hoyer, Klingenthal