Selektiver Wiederaufbau

» Danzig
» Stettin
» Elbing
» Königsberg
» Breslau
» Ratibor

Selektiver Wiederaufbau

Ursachen des Verschwindens

Die Altstadt der polnischen Hauptstadt Warschau – während des Zweiten Weltkrieges von den Deutschen komplett zerstört – wurde nach 1945 von Polen vorbildlich wiederaufgebaut. Dieser nationale Kraftakt trug Polen Anerkennung in der ganzen Welt ein und verhalf polnischen Restauratoren auch im Westen zu einem hohen Ansehen.

Aber auch die stark zerstörten Altstädte der bis 1945 fast ausschließlich von Deutschen bewohnten Großstädte Danzig und Breslau wurden auf Geheiß der polnischen Regierung wiederaufgebaut. Da es sich nach polnischer Lesart um „wiedergewonnene Gebiete“ handelte, tat man dies in dem Bewusstsein, keine deutschen, sondern ursprünglich polnische Städte wiederaufzubauen. Danzig war erst 1793 und Breslau 1740 an Preußen gefallen. Beide Städte kamen 1871 mit Preußen zum neu gegründeten Deutschen Reich. Danzig gehörte bis 1920, Breslau bis 1945 zu Deutschland.

Sowohl in Danzig als auch in Breslau bemühten sich Stadtplaner und Architekturhistoriker gezielt, den Städten ein Antlitz zu verleihen, das der vorpreußischen Zeit Ausdruck verleihen sollte. Bauten aus preußischer Zeit wurden vernachlässigt oder abgerissen. Kirchen und manche Profanbauten wurden in einen mittelalterlichen Zustand zurückversetzt. Deutsche Bauinschriften oder kirchliche Ausstattungsstücke mit deutschen Inschriften wie Epitaphien oder Grabmäler wurden fast überall entfernt.

Erst nach dem Ende des Kommunismus 1989 wandte man sich verstärkt auch den Baudenkmälern aus der preußischen Epoche zu. Dies gilt besonders für Breslau, das 2016 europäische Kulturhauptstadt war, und für die pommersche Hauptstadt Stettin, die 1720 bis 1945 zu Preußen gehört hatte.

Baustelle am Ring in Breslau während des Wiederaufbaus, 1954.
Baustelle am Ring in Breslau während des Wiederaufbaus, 1954. Die Bebauung am Großen Ring in Breslau wurde während des Zweiten Weltkrieges zu etwa 60 Prozent zerstört. Während die Häuser an der Westseite, auch Sieben-Kurfürsten-Seite genannt, den Krieg kaum beschädigt überstanden, mussten die Südseite komplett, die Nord- und Ostseite teilweise neu erbaut werden. Besonders an der Südseite wurde nicht der Zustand unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg wiederhergestellt. Stattdessen entstanden pseudohistorische Fassaden im Stil der Renaissance, des Barocks und vereinzelt des Klassizismus, die sehr frei mit dem historischen Aussehen, welches aus alten Stichen bekannt war, umgehen. Alte Baumaterialien wie Ziegelsteine aus den Ruinen wurden geputzt und fanden Wiederverwendung. Foto: Herder-Institut, Marburg, Bildarchiv I Fotograf: Stefan Arczyński

Danzig

Der eindrucksvolle Wiederaufbau von Danzig durch polnische Architekten und Restauratoren ist mit der Rekonstruktion von Warschau vergleichbar. Nach 1945 galt die offizielle Lesart, dass Danzig eigentlich eine polnische Stadt gewesen sei, die von 1454 bis 1793 zum Königreich Polen gehört habe und die nur von 1793 bis 1920 Teil Preußens war. Wenn man um diese polnische Sichtweise weiß, versteht man, warum Polen eine bis 1945 ganz überwiegend von Deutschen bewohnte Stadt mit gleicher Sorgfalt wiederaufbaute wie die von Deutschen zerstörte polnische Hauptstadt. Hauptaugenmerk legte man auf die Gebäude aus dem späten Mittelalter und die frühe Neuzeit bis 1793, während die noch vorhandenen Bauten aus preußischer Zeit lange vernachlässigt wurden. So entstand eine neue Altstadt, „politisch korrekt und so schön wie Danzig nie gewesen war“, wie der polnische Kunsthistoriker Konstanty Kalinowski resümierte.

Die Marienkirche, das Wahrzeichen Danzigs.
Die Marienkirche, das Wahrzeichen Danzigs. Hinter den Danziger Giebelhäusern der Renaissance und des Barock erhebt sich der mächtige Turm der gotischen Marienkirche/Kościół Mariacki. Das imposante, festungsartige Wahrzeichen Danzigs (Bauzeit 1343 bis 1502) ist die größte Kirche im Ostseeraum und eine der größten Backsteinkirchen Europas. Sie bietet bis zu 25.000 Menschen Platz. Bis 1945 galt sie als zweitgrößte evangelische Kirche überhaupt nach dem Ulmer Münster. Von der Reformation bis 1945 war die Kirche evangelisch. Im Krieg wurde die Kirche stark beschädigt. Seit dem Wiederaufbau bis 1955 wird sie wieder von der katholischen Gemeinde genutzt. Foto: Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA, No: 00750
Das Grüne Tor in Danzig.
Das Grüne Tor in Danzig.

Das Grüne Tor in Danzig.
Das Grüne Tor/Brama Zielona bildet den östlichen Abschluss des Langen Marktes/Długi Targ. Mit seinen drei Giebeln wurde es 1564 bis 1568 im prunkvollen Stil des flämischen Manierismus vom Baumeister Regnier aus Amsterdam errichtet. Im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, wurde es nach 1945 wiederaufgebaut. Heute befinden sich hier eine Abteilung des Nationalmuseums und ein Büro des polnischen Ex-Präsidenten Lech Wałęsa.

Historisches Foto: Herder-Institut Marburg, Bildarchiv Foto heute: depositphotos

Der Lange Markt/Długi Targ in Danzig.
Der Lange Markt/Długi Targ in Danzig.

Der Lange Markt/Długi Targ in Danzig.
Der Langen Markt/Długi Targ mit seinen bunten Giebelhäusern überragt das Rechtstädtische Rathaus/Ratusz Głównego Miasta mit seinem schlanken Uhrturm. Er wird von einer vielfach durchbrochenen Haube bekrönt. Auf der Turmspitze befindet sich seit 1561 eine vergoldete Figur des polnischen Königs Sigismund II. August. Nach schwersten Kriegszerstörungen wurde das Rathaus bis 1970 außen und innen rekonstruiert.

Historisches Foto: Herder-Institut Marburg, Bildarchiv Foto heute: depositphotos

Stettin

Pommern

Auch Hinterpommern und Schlesien zählten ab 1945 aus polnischer Sicht zu den „wiedergewonnenen Gebieten“ Polens. Vielerorts wurden Baudenkmäler archaisierend und altertümelnd aufgebaut und damit in einen Zustand versetzt, der an die Zeit vor der Übernahme durch Preußen erinnern sollte.

Die pommersche Hauptstadt Stettin fiel 1720 im Stockholmer Frieden an Preußen. Beim Wiederaufbau des Stettiner Schlosses errichtete man den Bau nicht so, wie er zu preußischer Zeit ausgesehen hatte und 1944 von britischen Bombern zerstört worden war. Stattdessen entstand von 1958 bis 1980 ein Gebäude, das ganz im Renaissancestil gehalten war. Damit sollte der ehemalige Herrschersitz an die 1637 ausgestorbene slawische Greifen-Dynastie erinnern, die lange Zeit den polnischen Königen gegenüber lehnspflichtig war und auch mit diesen durch Heiraten verbunden war. Dementsprechend heißt das Bauwerk heute „Schloss der pommerschen Herzöge“ und nicht „Schloss der preußischen Könige“.

Nach dem Ende des Kommunismus wurden in Stettin auch Bauwerke aus preußischer Zeit restauriert, so 1993 das ab 1725 entstandene Berliner Tor einschließlich seiner lateinischen Bauinschrift, die an den „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. von Preußen erinnert. Es heißt allerdings seit 1945 „Brama portowa“ (Hafentor).

Die Altstadt von Stettin wird  vom Schloss überragt.
Die Altstadt von Stettin wird vom Schloss überragt. Stettin war über 200 Jahre lang ein wichtiger Hafen für die Versorgung Berlins. Das Stettiner Schloss war durch alliierte Bombardements 1944 schwer beschädigt worden. Beim Wiederaufbau 1958 bis 1980 wurden die Umbauten aus preußischer Zeit (1720-1945) weitgehend rückgängig gemacht und das Schloss in einen vorpreußischen Zustand „zurückversetzt“. Dabei konnte man sich nur auf wenige Pläne und alte Ansichten (Kupferstiche und Gemälde) stützen. Besonders die markanten Renaissanceelemente der Dachzone existierten vor 1944 längst nicht mehr. Historisches Foto: Herder-Institut, Marburg, Bildarchiv Foto heute: depositphotos
Selektiver Wiederaufbau - 1
Selektiver Wiederaufbau - 2

Das Berliner Tor in Stettin und seine Umgestaltung zur Brunnenanlage. Das barocke Berliner Tor in Stettin, ab 1725 errichtet, symbolisierte die Zugehörigkeit der pommerschen Hauptstadt zu Preußen. Es bildete den westlichen Zugang zur Stadt und wurde von dem Westfalen Gerhard Cornelius von Wallrawe errichtet.1902 wurde das Tor von dem Berliner Bildhauer Reinhold Felderhoff, einem Günstling Kaiser Wilhelms II., in eine neobarocke Brunnenanlage umgebaut. Doch schon 1932 wurde dieser Eingriff  rückgängig gemacht.

Beide Fotos: Wikipedia Fotograf unten: Mateusz War

Elbing

Ostpreussen

Elbing mit dem Turm der St.-Nikolai-Kirche, vom Elbing-Fluss aus gesehen, 1930.
Elbing mit dem Turm der St.-Nikolai-Kirche, vom Elbing-Fluss aus gesehen, 1930. Die schmalen, hohen Häuser der reichen Handelsstadt Elbing am Elbing-Fluss wurden von der seit 1577 evangelischen Stadtpfarrkirche St. Nikolai überragt. Elbing war als Hafenstadt zeitweise erbitterte Rivalin von Danzig. Die Kirche wurde nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von zwei Jahrzehnten wiederaufgebaut und ist seit 1992 Kathedrale eines katholischen Bistums. Die Neubebauung der zerstörten Altstadt wurde ab 1983 geplant. Die meisten der schmalen, hohen Häuser wurden erst nach dem Ende des Kommunismus 1989 im Stil einer verspäteten Postmoderne mit Giebeln zur Straße und zum Teil mit Fachwerkimitat erbaut. Innerhalb von 30 Jahren sind so in der früheren Altstadt um die Kirche 300 abwechslungsreiche, doch stimmige Neubauten entstanden. Vor der Bebauung waren die Fundamente drei Jahre lang archäologisch untersucht worden. So wurde der steinerne Grundriss einer mittelalterlichen Handelsstadt freigelegt - eine im gesamten Ostseeraum einmalige wissenschaftliche Leistung.

Nach dem Ende des Kommunismus baute man in ehemals deutschen Städten in Polen im Stil einer verspäteten Postmoderne, so etwa in Elbing, Allenstein, Kolberg, Neisse und Glogau. Die dabei entstandenen Häuser waren lediglich von älteren Baustilen „inspiriert“. Man errichtete Privathäuser auf alten Parzellen und in der Kubatur von Altstädten, gab den Häusern aber bunte Fassaden, gezackte Giebel und verspielte Details. Mit wirklichkeitsgetreuen Rekonstruktionen des Vorkriegszustandes hatte dies nichts zu tun, doch stellt dieses Vorgehen eine Kulturtechnik der Sesshaftwerdung, Aneignung und Besitznahme der vorgefundenen städtebaulichen Gegebenheiten aus deutscher Zeit dar.

Blick vom Elbing-Fluss auf den vereinfacht wiederaufgebauten Turm der Kirche St. Nikolai in Elbing.
Blick vom Elbing-Fluss auf den vereinfacht wiederaufgebauten Turm der Kirche St. Nikolai in Elbing. Die Kirche dient seit 1992 als Kathedrale des neu errichteten katholischen Bistums Elbing. Die Häuser im Vordergrund zeigen die historisierenden Bauformen, in denen die Altstadt in den letzten Jahren, vor allem nach dem Ende des Kommunismus 1989, wiederaufgebaut wurde. Dabei blieb der alte Stadtgrundriss gewahrt. Foto: fotolia

Königsberg

Ostpreussen

Das Königstor in Königsberg.
Das Königstor in Königsberg. Das Königstor gilt als das schönste der von Friedrich August Stülerentworfenen sechs Stadttore von Königsberg. Es war das offizielle Symbol zum 750. Stadtjubiläum 2005 und wurde dafür restauriert. Den drei Figuren schlug man nach 1945 die Köpfe ab, doch zum Jubiläum wurden sie erneuert: links der König von Böhmen Ottokar II. Přemysl, nach dem Königsberg benannt ist, in der Mitte der erste Preußenkönig Friedrich I., rechts Herzog Albrecht von Preußen, der den Ordensstaat 1525 auf Empfehlung Martin Luthers in ein weltliches Herzogtum unter polnischer Lehnshoheit umwandelte.

Die stalinistische Sowjetunion wollte in der Oblast Kaliningrad in keiner Weise an die deutsche Vergangenheit Ostpreußens anknüpfen. Die im Krieg stark zerstörten Altstädte von Königsberg, Tilsit und anderen Städten wurden planiert.

Zum 750. Stadtjubiläum ließ die Regionalregierung 2005 die neugotischen Stadttore aus dem 19. Jahrhundert am Rande der Altstadt wiederherstellen. Das gut restaurierte Königstor (1843–1850) war das offizielle Symbol der 750-Jahr-Feier.

Seit langem sind der (partielle) Wiederaufbau des Königsberger Schlosses und eine kleinteilige Neubebauung der Innenstadt geplant. An der Stelle einer innerstädtischen Stadtbrache entstand ab 2007 eine Häuserzeile am Pregel, das „Fischdorf“. Es besitzt historisierende Fassaden mit stilisiertem Fachwerk. Sie sollen an die zerstörten Speicherhäuser erinnern, haben ansonsten aber nichts mit der Vorkriegsbebauung gemein.

Die Westfassade des Doms in Königsberg, vor 1944.
Die Westfassade des Doms in Königsberg, vor 1944.
Der Dom in Königsberg.
Der Dom in Königsberg.

In der Königsberger Altstadt baute man als einziges Gebäude bis 2005 den Dom wieder auf - auch mit deutscher Hilfe. Die Ruine war zu sowjetischer Zeit vermutlich deswegen nicht abgerissen worden, weil sie die Säulenhalle zur Erinnerung an den Philosophen Immanuel Kant umschloss. Kant war aus marxistischer Sicht Vorläufer von Hegel und Marx. Es entwickelte sich gar der Brauch russischer Brautpaare, ihren Brautstrauß am Kantgrab niederzulegen.

Der Dom wurde unter Verwendung von viel Beton in einer Weise wiederhergestellt, die nicht den Maßstäben westlicher Denkmalpflege entspricht. Für den russischen Königsberger Kulturhistoriker Anatolij Bachtin ist er heute eine „entstellte, konservierte Schachtel“. Für den Laien ist der Wiederaufbau dennoch beeindruckend.

Breslau

Schlesien

Auch in Breslau fand der Wiederaufbau selektiv statt, indem man bauliche Zeugnisse favorisierte, die aus dem Mittelalter stammten, als Schlesien von den slawischen Piasten-Herzögen regiert wurde. Die weit verzweigten Piasten herrschten als Könige Polens und als Herzöge von Schlesien. Viele historische Bauten, etwa romanische und gotische Kirchen, wurden von späteren Umbauten „bereinigt“ und deutsche Bauinschrift en entfernt. Die Piasten herrschten in Breslau bis 1335, danach fiel die Stadt an Böhmen, 1526 an die Habsburger und 1740 an Preußen. Leitbild der offiziellen städtebaulichen Erinnerungspolitik war ein „Piasten-Breslau“. Die böhmische und habsburgische Periode wurde toleriert, der preußischen Epoche stand man ablehnend gegenüber. Viele im Krieg beschädigte Bauten aus preußischer Zeit, die hätten aufgebaut werden können, wurden beseitigt: So etwa das Schlesische Museum für bildende Künste, das 1964 restlos abgerissen wurde. An seiner Stelle steht heute eine Schule.

Nach 1990 wandte man sich in Breslau der preußischen Vergangenheit zu. So wurde das Stadtschloss Friedrichs des Großen 2010 bis 2012 aufwändig rekonstruiert. Ausschlaggebend für den unbefangeneren Umgang mit den Zeugnissen aus deutscher Zeit ist sicher auch der Generationenwechsel. Die heutigen polnischen Breslauer sind hier aufgewachsen und müssen sich nicht wie ihre Eltern und Großeltern von der deutschen Vergangenheit distanzieren.

Markttag auf dem Breslauer Ring.
Markttag auf dem Breslauer Ring.

Ratibor

Schlesien

Der Marktplatz von Ratibor.
Der Marktplatz von Ratibor. Die Westseite des Marktplatzes von Ratibor wurde nach 1945 mit Häusern im polnischen Renaissancestil bebaut, die nichts mit der Vorkriegsbebauung zu tun haben. Foto: Wikipedia
Der Marktplatz von Zamość.
Der Marktplatz von Zamość. Originale Renaissancehäuser in Ostpolen, wie hier am Marktplatz von Zamość, dienten nach 1945 als Vorbild für die Neubebauung der Westseite des Marktplatzes im oberschlesischen Ratibor. Foto: Wikipedia

In der oberschlesischen Stadt Ratibor wurde nach 1945 eine Seite des Marktplatzes mit Häusern im Stil der polnischen Renaissance bebaut, die mit der deutschen Bebauung der Vorkriegszeit nichts zu tun haben. Typisch ist die Dachbekrönung, die sogenannte „polnische Attika“, wie sie besonders in Ostpolen, etwa in Lemberg/Lwów/Lwiw vorkommt, also in Regionen, aus denen viele der polnischen Neusiedler vertrieben worden waren. So konnten sich die neuen Bewohner in ihrer neuen Heimat an die alte erinnern.